Offener Brief an Oberbürgermeister Benz und die Stadtverordnetenversammlung

Die Darmstädter Stadtverordnetenversammlung hat am 19. Dezember auf Antrag von OB Benz eine Resolution bei Stimmenthaltung der Linken beschlossen. U.a. soll die Stelle eines Antisemitismus-Beauftragten geschaffen werden. Das Darmstädter Friedensbündnis richtet in diesem Zusammenhang einen offenen Brief an OB Benz und die Stadtverordneten:

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Benz,
sehr geehrte Stadtverordnete,

Nach dem entsetzlichen Hamas-Überfall, dem Raketenhagel auf Israel und nun dem tagtäglichen Grauen der israelischen militärischen Vergeltung in Gaza und auch der West-Bank ist es hierzulande offenbar kaum mehr möglich, eine offene und sachliche Debatte zum Thema Antisemitismus zu führen. Kritik an der rechtsnationalistischen Politik der israelischen Regierung und dem vernichtenden Rachefeldzug gegen Gaza wird vielfach mit Antisemitismus gleichgesetzt.

Die Verurteilung von Kriegsverbrechen Israels muss aber kein Antisemitismus sein!

Der europäische Antisemitismus, der eine lange, auch christliche Vorgeschichte hat, erreichte mit dem Hitlerfaschismus einen beispiellos-grauenhaften Höhepunkt. Es war der staatlich organisierte Massenmord an Millionen jüdischer Menschen – gesteigert bis zu ihrer industriell vorbereiteten und durchgeführten Ermordung in den Gaskammern der Vernichtungslager.

Unmittelbar nach dem Krieg wollten im Land der Täter allzu Viele nichts davon gewusst haben. Besonders die vom Staatsanwalt Fritz Bauer gegen starke Widerstände durchgesetzten Auschwitz-Prozesse zwischen 1963 und 1965 machten einer breiteren Öffentlichkeit das ungeheuerliche Ausmaß der Verbrechen klar. Gegen den Antisemitismus rechtsradikaler Holocaust-Leugner muss strikt Front gemacht werden. Das jüdische Leben muss geschützt werden – auch in unserer Stadt.

Die „Deutsche Staatsräson“ einer kritiklosen Solidarität mit der antipalästinensischen Politik der israelischen Regierung unterschlägt die politische Vorgeschichte des Unrechtes an den Palästinensern. Sie waren nicht für den Holocaust verantwortlich, sie wurden nicht gefragt. Deren Vertreibungskatastrophe Nakba kann und darf bis heute nicht vergessen werden.

Jetzt gilt hierzulande jegliche Kritik an der israelischen Politik und an einem rechtsnationalistischen Zionismus als „israel-bezogener“ Antisemitismus. Greta Thunberg, Jeremy Corbyn, Roger Waters sowie Judith Butler, Masha Gessen, Deborah Feldman zusammen mit zahlreichen anderen antizionistischen Jüdinnen und Juden werden in einen Topf des Antisemitismus geworfen. Es herrscht eine Atmosphäre der Verdächtigung und Cancel-Culture gleichgültig dem gegenüber, wie die israelische Regierung politisch und militärisch handelt.

Undifferenziert wird ein sogenannter islamischer bzw. importierter Antisemitismus behauptet. Dass in der nahöstlichen Welt antisemitische Inhalte des Nazi-Antisemitismus übernommen wurden, ist den Weltkriegs-Fronten zu verdanken, als Deutschland gegen die nahöstlichen Kolonialmächte – Großbritannien und Frankreich – kämpfte. Es ist klar, dass wir diesen quasi „kolonialen“, aus Europa nach Nah-Ost exportierten Nazi-Antisemitismus strikt ablehnen, ebenso wie eine Judenfeindlichkeit in arabischen Ländern, die den vielen Nah-Ost-Kriegen, der Besetzung arabischer Gebiete sowie der Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung durch den Staat Israel geschuldet ist.

Wir begrüßen, dass Sie auch an die „vielen zivilen Opfer im Gaza-Streifen“ gedacht haben. Doch es geht um viel mehr:

Fast die gesamte Bevölkerung Gazas von über 2 Millionen Menschen wurde durch die totale Kriegsverwüstung zu entwurzelten, besitzlosen Binnenflüchtlingen. Meist in armseligen Zeltstädten zusammengedrängt, leiden sie an Hunger und Durst, an mangelnder medizinischer Versorgung und grassierenden Infektionen. Maßgebliche Mitglieder der israelischen Regierung propagieren eine zweite „Nakba“: die Vertreibung aller Palästinenser aus einem „Groß-Israel“ zwischen Jordan und dem Meer“.

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Benz, sehr geehrte Stadtverordnete, wir appellieren an Sie, von einseitigen, undifferenzierten Antisemitismus-Vorwürfen Abstand zu nehmen und der notwendigen Kritik an der israelischen Politik Raum zu geben.

Hochachtungsvoll –
i.A. für das Darmstädter Friedensbündnis: Karl-Heinz Goll , Jürgen Herbst
Herausgeber und Kontakt: Darmstädter Friedensbündnis